Der Pianist und Komponist Herbert Horatio "Herbie" Nichols kam am 3. Januar 1919 in New York zur Welt. Er wuchs als Sohn karibischer Einwanderer in San Juan Hill und Harlem auf. Früh lernte er, Klavier zu spielen, las Bücher, engagierte sich politisch – ein Kind der in den Dreissigern ausklingenden Harlem Renaissance. Seinen Plan, ein neuer Prokofiev zu werden, musste er bald begraben. Die arme Familie konnte ihm auch kein Studium finanzieren, dennoch las Nichols für den Rest seines Lebens unter anderem Bücher über Philosophie.
In den Jazzkreisen New Yorks fand er schwer Anschluss. Seine Vorstellungen von Harmonik, von Tonalität gingen über das hinaus, was auch die jungen Wilden der mittleren Vierzigerjahre, die Bebop-Generation, tolerierte. So blieb Nichols ein Aussenseiter selbst in dieser Gruppe von Aussenseitern. Auch lag ihm das kompetitive Umfeld der Jam-Sessions wenig. Dass Nichols nicht trank und auch keine Drogen konsumierte, machte ihn kaum beliebter.
Schon in den Vierzigern komponierte Nichols viele Stücke, doch aufnehmen konnte er sie noch lange nicht. 1951 spielte die befreundete Pianistin Mary Lou Williams drei seiner Kompositionen ein, doch daraus ergab sich für Nichols selbst keine Möglichkeit. Eher zufällig kam er 1952 zu seinem Debut im Studio. Er war als Begleiter des Sängers und Bassisten Chocolate Williams gebucht, und als am Ende noch etwas Zeit übrig war, wurde spontan auch noch eine Nichols-Single eingespielt. Sein Auskommen fand er als Pianist für allerlei Bands, vom Rhythm & Blues (Hal Singer, Illinois Jacquet, Arnett Cobb) über Dixieland (Joe Thomas, Rex Stewart) bis hin zu Auftritten als Pianist in Revues, Cabarets und Strip-Clubs.
1955 schien sich Nichols' Schicksal zu wenden. Jahrelang schon hatte er Alfred Lion, den Gründer und Produzenten von Blue Note Records, um eine Session gebeten. Dieser gab schliesslich nach, obwohl ihm klar war, dass Nichols' Musik wenig Verkaufspotential hatte. Doch als dieser ihm seine Stücke vorspielte, war er begeistert und machte dasselbe wie 1947 schon mit Thelonious Monk: Er wollte möglichst viele von diesen so eigenwilligen Stücken dokumentieren. Vier Sessions fanden im Frühling und Sommer 1955 statt, eine letzte folgte im April 1956. Begleitet wurde Nichols von den Bassisten Al McKibbon und Teddy Kotick sowie den Schlagzeugern Art Blakey und Max Roach. Blue Note brachte zwei 10"- und eine 12"-Platte heraus – Werke voller wundersamer Musik, doch ein Erfolg waren sie nicht, sie generierten nur wenige, ein- oder zweitägige Gigs für Nichols, der alsbald wieder in der Versenkung verschwand. Eine letzte Session folgte im Herbst 1957 für Bethlehem, diesmal waren George Duvivier (b) und Dannie Richmond (d) dabei, es standen mehr Fremdkompositionen und Standards auf dem Programm als bei Blue Note. Insgesamt hat Nichols knapp 40 Originals aufgenommen, zudem ein halbes Dutzend Standards und Stücke anderer Jazzmusiker.
Für seine Stücke wählte Nichols oft ungewöhnliche Strukturen, die über das übliche Songformat (die üblichstes: vier achttaktige Phrasen nach dem Muster AABA) weit hinausgingen: ungerade Anzahl Takte, drei, vier oder sogar fünf Teile, Schlagzeug-Intermezzi, fanfarenartige Intros, die am Schluss in der Regel wiederholt wurden. Auch Nichols' Changes waren und Tonleitern waren seine eigenen, er schrieb sie zu seinen Melodien und ging auch hier über das im Jazz übliche hinaus. So klingen seine Stücke auch heute noch ungewohnt, aber auch sehr frisch. Wir hören Doppeldeutigkeiten, Dissonanzen, verschattete Harmonien. Unter den funkelnden Linien der rechten Hand krachen die Akkorde, während die Basstöne oft wuchtig gestanzt wirken.
In seinen letzten Jahren versiegten für Nichols selbst die Dixieland-Gigs. Er fand neue Möglichkeiten in der Welt der weissen College Dixieland Amateur-Bands. In diesem Umfeld wurden ein paar Musiker gross, die den weiteren Gang des Jazz mitgeprägt haben, etwa der Bassist Buell Neidlinger (2018 verstorben), der Posaunist Roswell Rudd (2017 verstorben) oder der Bassist Steve Swallow. Rudd und Neidlinger wurde zu engen Vertrauten des eine Generation älteren Pianisten, sie lernten seine Musik spielen, probten mit ihm. Als er am 12. April 1963 an Leukämie starb, hinterliess Nichols Rudd ein Kompendium von 30 Stücken, die er nie aufgenommen hatte. Eine Auswahl von ihnen brachte Rudd in den Neunzigern auf zwei Alben heraus. Neben ihm und Neidlinger bemühten sich auch Steve Lacy oder der Niederländer Misha Mengelberg um die Musik des Aussenseiters.
Mosaic Records brachte die gesammelten Blue Note-Aufnahmen 1987 gesammelt und wesentlich erweitert neu heraus. Roswell Rudd schrieb die Liner Notes, diverse andere Weggefährten steuerten Erinnerungen bei. Schon ein paar Jahre früher hatten Rudd, Lacy und Mengelberg mehrere Alben mit Stücken von Nichols veröffentlicht. Ebenfalls hatte der Pianist Frank Kimbrough angefangen, sich in Nichols' Musik zu vertiefen. Ende der Neunziger brachte er dann mit dem Herbie Nichols Project drei Alben heraus. Da war längst eine kleine Nichols-Renaissance im Gange. Ein paar Kostproben sind auch im grossen Portrait zu hören, viele weitere dann in Folge #84 meiner Sendereihe, Beyond Recall: Das Herbie Nichols Songbook.