„Miles was … cool. Pleasant, relaxed, diffident. It was his fist time as leader, he relied on Gil. He must have picked up his famous salty act sometime after later because he was sweet then.“ – So erinnert sich Mike Zwerin an seine Zeit mit der Tuba Band von Miles Davis (1926–1991) im Herbst 1948 (für die Plattenaufnahmen wurde der Teenager, den Miles im Minton’s engagiert hatte, durch J.J. Johnson bzw. Kai Winding ersetzt).
„It did not seem historic or legendary. A good jazz gig, yes; but there were others“, so Zwerin. „Who imagined that those three weeks with Miles in a Broadway joint called the Royal Roost would give birth to an entire style? And that we’d still be talking about it half a century later?“
Gil, das ist Gil Evans (1912–1988), der musikalische Leiter der Band, der Svengali, der Miles’ lange Karriere aus dem Hintergrund nachhaltig geprägt hat – weit über die paar gemeinsamen Alben in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern hinaus.
In seiner kurzen Lebenszeit mochte das ungewöhnlich besetzte Nonett – neben Trompete, Posaune, Alt- und Baritonsaxophon sowie einer Rhythmusgruppe fanden sich ein Horn und eine Tuba in der Besetzung, daher die Bezeichnung „Tuba Band“ – nicht für grosse Aufregung gesorgt haben. Doch das änderte sich nur wenige Jahre später. Musiker erfassten schnell die besondere Schönheit und den Wagemut dieser Einspielungen. Weniger als zwei Jahre nach der letzten Session, die mit über einem Jahr Abstand im März 1950 stattgefunden hatte, nahm Gerry Mulligan einige der musikalischen Rezepte in sein berühmtes klavierloses Quartett mit Chet Baker auf – und hatte mit dieser Gruppe grossen Erfolg. Auch Shorty Rogers hatte seine Lektionen von Miles Davis’ Gruppe gelernt. Das ist zunächst an Arrangements zu hören, die er für Stan Kenton schrieb, ab 1951 dann mit seinen eigenen Giants, die massgeblich zum Erfolg des sogenannten „West Coast Jazz“ beitrugen. Doch auch John Lewis, der Pianist von Dizzy Gillespies bahnbrechender Bebop Big Band, liess seine Erfahrungen mit Davis später in die Musik des Modern Jazz Quartet einfliessen.
So war die „Tuba Band“ der Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Entwicklungen im Jazz der Fünfzigerjahre – sie war aus ihrer Zeit, ihrer Zeit voraus, und zugleich völlig zeitlos.
Doch der „Cool Jazz“ entstand nicht erst 1948. Gerade erschien wieder ein Artikel, der Lester Young die Ehre zukommen lässt, „Cool“ erfunden zu haben. Das geht weit über die Musik hinaus, so Ted Gioia: „Lester Young changed the world, and has never gotten the credit for it.“ Doch Young ist heute nicht erneut Thema, eine andere Sendung wäre nötig, um die Entwicklung des Cool in den Dreissiger- und frühen Vierzigerjahren zu verfolgen. Der Einfluss von Miles – aber auch des Bebop – auf den Jazz in Kalifornien wird jedoch Thema der folgenden beiden Sendungen sein.
Die Konstruktion stilgeschichtlicher Abläufe hatte in der Jazzgeschichte lange Zeit Konjunktur. So betrachtet war der Cool Jazz die kühle (will sagen: weisse) Reaktion auf den heissen (will sagen: schwarzen) Bebop, ebenso wie der Chicago Jazz einst die Reaktion auf den Jazz aus New Orleans war - und umgekehrt schlug das Pendel mit dem Swing bzw. dem Hard Bop dann wieder zurück, weil die Musik ja schliesslich ihre Lebenssäfte zurückgewinnen und weil die „schwarze" Seite – es handelt sich ja schliesslich um die Musik der Afro-Amerikaner – oberhand behalten muss.
Solche Betrachtungsweisen sind passé. Die Entwicklung des Jazz ist zu komplex, als dass eine lineare Narration ausreichen würde, sie zu erfassen. Es gibt immer wieder Querbeeinflussungen an unerwarteter Stelle und gerade die frühen Fünfzigerjahre waren eine Ära der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es gilt daher, genauer hinzuschauen - und zu hören! Den Cool Jazz zumal kann man jedenfalls auch als eine Schattierung, eine Art Nebengeleise, des Bebop sehen. Es geht mehr um Akzente, Stimmungen, Farben, denn um grundsätzliche stilistische Veränderungen. Im Bebop wurde sehr viel experimentiert und neben dem Hauptstrom, wie ihn die Aufnahmen Charlie Parkers, Dizzy Gillespies oders Bud Powells verkörpern, die in der letzten Sendung im Mittelpunkt standen, gab es eben auch andere Schienen, aber auch wesensverwandte Musik wie zum Beispiel jene von Thelonious Monk - und auch jene von Lennie Tristano.
Lennie Tristano (1919–1978), ein blinder Pianist aus Chicago, kam in den Vierzigern nach New York. Er scharte einige gelehrsame Schüler um sich. Tristanos strenge Methoden und die Treue, die seine Schüler ihm entgegenbrachten, führten zu einem seltsamen Kult. Der Jazzkritiker Ira Gitler erzählte die Geschichte, wie der Pianist Al Haig einst Lee Konitz und Warne Marsh über eine musikalische Frage debattieren hörte, ohne dass sie sich einig werden konnten – und ihnen vorschlug, sie sollten doch den „witch doctor“ anrufen, um den Streit zu klären.
Earl Hines und Art Tatum waren Tristanos wichtigste Einflüsse, Lester Young, Roy Eldridge und Billie Holiday seine grössten musikalischen Lieben. Später wurde er auch von Charlie Parker stark beeinflusst – und auch von Bud Powell. Der Bebop beeinflusste zwar seine Musik erheblich, war aber nicht Ausgangspunkt seiner Konzeption. Harmonisch war er sehr eng am Bop dran, rhythmisch jedoch überhaupt nicht – und melodisch war er sein eigener Mann. Tristano pflegte einen sehr gradlinigen Stil, ein schnelles, lineares Klavierspiel. Er experimentierte mit Kontrapunkten – vor allem im Zusammenspiel mit dem Gitarristen Billy Bauer (1915–2005) –, mit harmonischer Flexibilität und mit komplexen Rhythmen. Da er sich nicht einengen lassen wollte, verzichtete er fast gänzlich auf Interaktion mit der Rhythmusgruppe, die mehr oder minder auf die Funktion eines Metronoms zurückgestuft wurde. Dies liess Tristano und seinen gelehrigen Eleven im Gestalten ihrer eigenen Linien eine grösstmögliche rhythmische Freiheit. Besonders Lee Konitz (*1927) und Warne Marsh (1927–1987) sollten die Kunst des sound of surprise im Lauf der Jahre zu neuen Blüten treiben.
Tristano nahm anfangs im Trio mit Gitarrist Billy Bauer und wechselnden Bassisten auf, Ende der Vierziger war seine Musik jedoch so weit gediehen, dass sie auch im Quintett und Sextett mit Konitz, Marsh, Bauer und anderen bestehen konnte. Seine Arrangements beruhten zwar fast immer auf Standards, aber diese wurden verdichtet, umgebaut. Der leichte Puls der Rhythmusgruppen und die harmonische Offenheit von Tristanos Musik erlaubten den Solisten, feinste rhythmische Nuancen offenzulegen –und dies mit grösstem Wagemut, ohne jemals auf licks und pet phrases zurückzufallen. Dies hätte der Guru nämlich überhaupt nicht toleriert, im Gegenteil: konstanter und konsequenter melodischer Einfallsreichtum war gefragt, die Musik sollte in jedem Augenblick völlig spontan sein. Das führte so weit, dass die Combo bereits in den späten Vierzigern zwei völlig freie Aufnahmen machte.
Ein weiterer bedeutender Musiker des frühen Cool war Stan Getz (1927–1991). Er war 17, als er bei Stan Kenton spielte, wechselte 1947 zu Woody Herman. Im Dezember 1948 entstand eine Einspielung, die den jungen Musiker über Nacht zum Star machen sollte: „Early Autumn“, eine Komposition von Ralph Burns. Als die Aufnahme erschien, war Getz bereits nach New York weitergezogen. Mit 22 war er einer der berühmtesten Jazzmusiker der Welt und bezauberte das Publikum mit einem überirdischen Ton, der ihm den Übernamen „The Sound“ eintrug. Getz nahm in diesen ersten Jahren als Leader eine Reihe phantastischer Platten auf. Im Quartett mit Al Haig oder Horace Silver entstand eine Kleinod am anderen. Im Gitarristen Jimmy Raney (1927–1995) fand er schliesslich seinen kongenialen Partner. Ihr Quintett wurde nicht nur im Studio dokumentiert sondern auch in Live-Aufnahmen aus dem Storyville-Club in Boston, die sich nicht an die zeitlichen Beschränkungen der 78er Schellacks halten mussten. Hier wird aus dem kühlen Kontrapunkt, den sich ineinander verschränkenden Linien von Getz und Raney, plötzlich wieder eine brennende Musik – doch es ist, wie bei Getz’ Freund Miles Davis, die blaue Gasflamme, die hier lodert. Was heisst denn nun "cool"?
Die Band:
Trompete: Miles Davis
Posaune: J.J. Johnson, Kai Winding, Willie Dennis
Horn: Gunther Schuller
Tuba: Bill Barber
Altsax: Lee Konitz
Tenorsax: Stan Getz, Warne Marsh
Barisax: Gerry Mulligan
Vibes: Milt Jackson, Terry Gibbs
Piano: Lennie Tristano, Al Haig, John Lewis
Gitarre: Billy Bauer, Jimmy Raney
Bass: Al McKibbon, Teddy Kotick, Percy Heath
Schlagzeug: Max Roach, Kenny Clarke, Tiny Kahn, Denzil Best
Arrangements: Gil Evans, Gerry Mulligan, John Lewis, Ralph Burns, Johnny Carisi