Lester Young, Famous Door, NYC 1946 (Photo: William P. Gottlieb - Wikimedia/Commons)
He was so different. (Albert "Tootie" Heath)
Nachdem in zwei Sendungen Coleman Hawkins, der Vater des Tenorsaxophons im Jazz, und seine wichstigsten Schüler im Zentrum standen, gilt das Augenmerk in der dritten Folge von "Tenor Giants" dem grossen Lyriker Lester Young (1909-1959), der eine weichere, fliessendere Spielweise entwickelte und vor allem durch seine Tätigkeit in der ersten Big Band von Count Basie (1936-1940) zum Antipoden von Hawkins wurde.
Hawkins had done everything possible and was the master of the horn, but when Prez appeared we all started listening to him alone. Prez had an entirely new sound, one that we had been waiting for, the first one to really tell a story on the horn. (Dexter Gordon)
Young verbrachte seine frühen Jahre in New Orleans. Sein Vater Billy Young reiste als Musiker mit Minstrel Shows umher und sorgte dafür, dass seine Kinder eine musikalische Ausbildung erhielten, um sie für die geplante Familienband vorzubereiten. Als Young elf Jahre alt war, zog die Familie nach Minneapolis, tourte durch Minnesota, die Dakotas und Kansas. Lester spielte Schlagzeug und verteilte Flyer für die Minstrel Show. Mit achtzehn Jahren - er spielte inzwischen längst Saxophon und Klarinette - verliess er die Familienband (in der später auch ein gewisser Ben Webster mitwirken sollte) und begann, sich seine Sporen in verschiedenen Territory Bands abzuverdienen.
Die bekannteste dieser Bands waren Walter Page's Blue Devils aus Kansas City. Mit ihnen tourte Young durch die Provinz. Er sammelte die Platten von Frank Trumbauer/Bix Beiderbecke, weil er den Klang von Trumbauers C-Melody-Saxophon schätzte - hier fand er einen Anknüpfungspunkt jenseits des übermächtigen Coleman Hawkins. 1934 ersetzte Young diesen im Orchester von Fletcher Henderson: "I was rooming at Fletcher's house. Mrs. Henderson would come in every morning and that bitch would start playing me them records with Hawkins and everything, and I would listen, because I didn't want to hurt nobody's feelings". Und so war Young bald wieder auf dem Weg zurück nach Kansas City - versehen mit einem Schreiben Hendersons, das bestätigte, dass er nicht etwa rausgeworfen wurde.
Ein paar Monate später hörte John Hammond zufällig die Basie Band und nahm sie unter seine Fittiche. Im Herbst 1936 entstanden erste Aufnahmen. Young war - trotz anderer hervorragender Sidemen wie Buck Clayton, Benny Morton, Harry Edison oder Dickie Wells - der herausragende Solist der Band. Zentral für den Erfolg der Musik Basies war die Rhythmusgruppe um den Bassisten Walter Page. Freddie Green an der Rhythmusgitarre, Jo Jones am Schlagzeug und Basie am Piano. Sie entwickelten zusammen einen neuartigen, gleichmässigen 4/4-Beat. Page spielte nicht nur mit felsenfestem Time sondern auch mit grossem melodischem Einfallsreichtum.
Den Auftakt machte keine Session der vollständigen Band sondern eine kleine Combo, der man den Namen "Jones-Smith Incorporated" verpasste, nach Jo Jones und dem Trompeter Carl "Tatti" Smith. Die wahre Sensation ist jedoch Lester Young, der sich von Walter Pages Bass zu unglaublichen Höhenflügen antreiben lässt. Das unsterbliche "Lady Be Good" hörten wir bereits in einer früheren Sendung, das andere Meisterwerk, "Shoe Shine Boy", das erste Stück der Session und damit der Auftakt zur Diskographie von Basie wie auch von Young, wird dieses Mal erklingen.
In Basies Band sass Young neben Herschel Evans, einem der begabtesten Vertreter der Hawkins-Schule des Tenorsaxophons (wir hörten ihn in der letzten Sendung mit seiner Paradenummer "Blue and Sentimental"). Die beiden lieferten sich auf der Bühne feurige Gefechte, doch sie standen sich sehr nahe. Als Evans 1939 starb, war das für Young ein harter Schlag - möglicherweise begann er in dieser Zeit, zu trinken.
Actually Lester had the greatest respect and admiration for Herschel. When Herschel died in 1939, it was just like a twin dying. Soon afterward, Lester would be so restless that he would keep his coat and hat underneath the music stand, and other guys would have to pull him back down to his seat to keep playing. (Jo Jones)
Im Mai 1937 kam es auch zu einer ersten Plattensession mit Billie Holiday. Lester Young war ihr Lieblingssolist, sie verpasste ihm den Übernamen "Pres", the president. Young nannte sie "Lady Day" - und Holiday war ihrerseits seine Lieblingsmusikerin. Die beiden sollten in den folgenden Jahren - zunächst unter der Leitung von Teddy Wilson - eine Reihe von Aufnahmen machen, die ihre musikalische Seelenverwandtschaft eindrücklich beweist. Noch "Fine and Mellow" von 1957 (es erklang in der letzten Sendung) ist ein eindrückliches Zeugnis ihrer Affinität. In seinem kurzen, berührenden Solo scheint Young seine ganze Karriere zusammenzufassen.
Bis 1940 blieb Young bei Basie - er verliess die Band angeblich, weil er an einer Plattensession, die für einen Freitag den 13. einberaumt war, nicht teilnehmen mochte. Mit seinem Bruder, Schlagzeuger Lee Young, gründete er eine Band, die an der Ostküste und in Kalfornien spielte. Aufnahmen entstanden in dieser Zeit nur wenige, von der Band der Young-Brüder sind fast nur einzelne, oft unvollständige Stücke überliefert, die im Radio gesendet und mit den damaligen einfachen Mitteln festgehalten wurden.
Als der zweite recording ban Ende 1943 für die kleinen Label zu Ende ging, begann Young eine regelmässigere Aufnahmetätigkeit, jetzt unter eigenem Namen, fast immer in kleinen Gruppen. Den grössten Teil des Jahres 1944 verbrachte er wieder mit Basies Big Band. Jo Jones hatte ihn eines Abends in einer Bar an der 52nd Street in New York getroffen, ein Bier ausgegeben und gesagt: "'Now don't forget we're at the Lincoln Hotel. Be at work at seven.' And at seven o'clock, there he was." Aus dieser zweiten Zeit mit Basie existieren wegen des recording ban keine offiziellen Aufnahmen, aber die erhaltenen Transcriptions und Radio-Mitschnitte zeigen Young in Form.
Das folgende Jahr sollte ein traumatisches werden. Young, der grosse Individualist, wurde in die Army eingezogen. Er wurde schikaniert und schliesslich zu fünf Jahren Arrest verurteilt - den detention barracks widmete er später den "D.B. Blues", ein Stück, das er bis ans Lebensende im Repertoire behalten sollte. Nachdem eine Flucht sich als unmöglich entpuppte, flüchtete Young sich in Drogen, zog sich mental zurück aus der Welt. Als er schliesslich 1945 unehrenhaft entlassen wurde, kehrte er an die 52nd Street zurück. Er fand die Jazzwelt im Umbruch: der Bebop war im Aufkommen, eine ganze Generation junger Musiker hatte sich Youngs Ideen und Konzepte zu eigen gemacht. Young war in jeder Hinsicht entwurzelt.
Bald ging er zurück nach Kalifornien. In Los Angeles begann Young für Philo/Aladdin Records eine Reihe von Aufnahmen. Sein Ton hatte sich verändert, war etwas dicker und schwerer, auch dunkler geworden. Sein Spiel wurde eher noch unberechenbarer, wenngleich er nicht mehr immer den über unfassbaren Ideenreichtum und die schwebende Leichtigkeit seiner jungen Jahre verfügte. Lange Zeit hielt sich der Mythos, dass Young nach der Erfahrung in der Army ein gebrochener Mann gewesen sei, der musikalisch nichts mehr auf die Reihe gekriegt habe. Wer noch immer solchen Vorstellungen anhängt, entlarvt jedoch, so kann man aus heutiger Sich getrost sagen, nur sich selbst - als hörfaul und gefühlskalt.
Young stiess in Kalifornien auch zu Norman Granz' Jazz at he Philharmonic, traf in diesem Rahmen auf Coleman Hawkins, aber auch auf Charlie Parker und andere junge Bebopper. In seiner Band wirkten in den frühen Fünfzigern Nachwuchstalente wie Horace Silver oder Roy Haynes mit. Young nahm vor allem in den letzten zehn Jahren seines Lebens wieder regelmässig auf, stand bei Norman Granz' Label Verve unter Vertrag. Auch zahlreiche Radio-Mitschnitte, vor allem aus Clubs in New York, sind erhalten. Die Qualität der Musik aus dieser Zeit ist schwankend, bei manch einer Session ahnt man, dass es Young nicht gut ging. Anderswo spielt er mit einer kaum zu unterdrückenden Spielfreude und einem Witz wie in den besten Zeiten.
Die Sendung wird vor allem auf die frühen Jahre fokussieren - in der Zeit bis 1940 ist eigentlich jedes Solo von Young, jedes Stück, bei dem er mitwirkte, ein Meisterwerk. Aber auch Aufnahmen aus den Vierzigern, darunter solche nach der Zeit bei der Army, werden zu hören sein. Wir hören einen Poeten, der aus seiner Verletzlichkeit Kraft gewinnen konnte, einen aussergewöhnlichen Musiker, dessen Werk noch heute berührt, manchmal verstört, wie nur wenige andere im Jazz.
(Flurin Casura)