In meiner spontan und kurzfristig zusammengestellten Sendung über das legendäre New Yorker Jazzlabel Blue Note Records gibt es eine subjektiv gefärbte Auswahl von überwiegend langen Tracks: viel Hammond-Orgel, aber auch Gitarren, Saxophone und Trompeten werden erklingen. Wir hören Blues, karibisch angehauchtes, Blues, Hard Bop, Blues und noch mehr Blues - vom Blues und den für ihn so typischen "blue notes" stammt ja der Name des Labels.

Blue Note Records entstand 1939 in New York. Es wurde von Alfred Lion und Max Margulis (als Financier im Hintergrund) gegründet. Kurz darauf stiess Frank Wolff dazu, Lions Jugendfreund aus Berlin, der mit dem letzten Schiff den Atlantik kreuzte, bevor es zu spät war. Die beiden Migranten - Photograph Wolff nannte sich fortan Francis - hegten eine grosse Liebe für den Jazz. Ihre ersten Aufnahmen machten sie mit den Boogie Woogie-Pianisten Albert Ammons und Meade Lux Lewis, sie verschrieben sich dem "Hot Jazz", wobei Lion eine ganz besondere Vorliebe für den Blues entwickelte. Es entstanden bald Aufnahmen mit Sidney Bechet und anderen Vertretern des traditionellen Jazz und Lion bat sie immer wieder, in einem älteren, traditionelleren Stil zu spielen als sie es abends in den Nachtlokalen taten: Er suchte nach den Wurzeln, nach dem Blues. Die Sessions fanden in den frühen Morgenstunden statt, nachdem die Musiker ihre Auftritte in den Clubs beendet hatten. Lion stellte Erfrischungen zur Verfügung und bald hatte das Label den Ruf, mit den Musikern ausgesprochen freundlich umzugehen.

1941 wurde Lion für zwei Jahre in die US Army eingezogen, Milt Gabler von Commodore Records (Label und Plattenladen) bot an, die Blue Note-Platten zu lagern und zu vertreiben, während Wolff für ihn arbeitete. Nach Lions Rückkehr 1943 nahm das Label seine Aktivitäten wieder auf, spielte Platten mit Musikern wie Edmond Hall und Art Hodes ein, die als kommerziell wenig versprechend galten. Auch die Army wurde mit Blue Note-Platten versorgt.

Der grosse Wechsel fand 1947 statt: Lion entdeckte einen schrulligen Pianisten namens Thelonious Monk, der in den Kreisen der jungen Bebop-Musiker eine fast kultische Verehrung genoss. In den nächsten fünf Jahren spielte er mit Monk fast die Gesamtheit von dessen bisherigen Kompositionen ein. Der moderne Jazz hielt Einzug bei Blue Note. Bud Powell, Tadd Dameron, Fats Navarro, J.J. Johnson und Miles Davis waren andere Bebopper, die bald auch für Blue Note im Studio standen. Ihre Aufnahmen erschienen als Schellack-Singles aber auch auf 10-Inch-Alben.

Mitte der Fünfzigerjahre war Blue Note an vordersten Front dabei, als der Hard Bop entstand: mit Art Blakey und Horace Silver hatte man zwei der wichtigsten Exponenten unter Vertrag, die gemeinsame Combo nahm zwei 10"-LPs auf, die längst zu Klassikern wurden. Blakey gründete seine Jazz Messengers, Silver behielt die Band (fortan das Horace Silver Quintet) und beide nahmen bis in die Sechziger hinein eine lange Reihe von grossartigen Alben für Blue Note auf. Doch auch der traditionelle Jazz behielt - das wird heute gerne vergessen - bis Mitte der Fünfzigerjahre seinen Platz bei Blue Note. Bechet oder der Klarinettist George Lewis nahmen weiter für Lion und Wolff auf.

Mit dem Wechsel auf das 12-Inch-Format beginnt dann die Ära, die längst Kult ist. Wolffs Photographien, die in puristischem Schwarzweiss eine harte Ästhetik der Arbeit verkörpern - Musiker in höchster Konzentration, Schweissperlen auf der Stirn, auch mal mit brennender Zigarette zwischen den Fingern - und das Design von Reid Miles verhalfen dem Label zu grossartigen Plattencovern, die die Alben zu begehrten Sammlerobjekten machten. Seit 1953 wurden fast alle Aufnahmen von Rudy Van Gelder gemacht, in seinem Studio nahmen zwar auch andere Label wie Prestige Records auf, aber die Blue Note-Platten klangen stets anders. Es umgab sie - von den Musikern über den Sound bis zur Gestaltung der Cover - eine Aura des Besonderen.

Lion und Wolff hielten Augen und Ohren offen, vertrauten ihren Musikern bei der Suche nach neuen Talenten, die sie für ihr Label verpflichten konnten. So erweiterten sie ihren "roster" schnell, Nachwuchstalente wie Lee Morgan, die ex-Messenger Hank Mobley und Donald Byrd, der phänomenale Hammond Organist Jimmy Smith, der Pianist Sonny Clark, die Saxophonisten Lou Donaldson, Stanley Turrentine und Joe Henderson, die Gitarristen Kenny Burrell und Grant Green, die Organisten Baby Face Willette oder John Patton nahmen alle eine Reihe von Alben für das Label auf. Die Pianisten lagen Lion besonders am Herzen. Nachdem er mit Monk seinen Wagemut bewiesen hatte, versuchte er Mitte der Fünfziger erfolglos, Herbie Nichols zu lancieren. Seine nächste grosse Entdeckung war ein Jahrzehnt später der Chicagoer Andrew Hill. Mit dessen Aufnahmen und Alben von Jackie McLean, Bobby Hutcherson oder Larry Young entstand auch eine Art "Blue Note Avantgarde" - dem Free Jazz zuwenden mochte Lion sich nicht, aber offene Ohren hatte er nichtsdestotrotz. Wayne Shorter, McCoy Tyner oder Sam Rivers sorgten in den Sechzigern für weitere Glanzlichter.

Im Hintergrund wirkten Musiker wie Gil Mellé (der den Kontakt zu Rudy Van Gelder herstellte und frühe Covers gestaltete), Ike Quebec (der in den Vierzigern selbst für das Label aufgenommen hatte) und später Duke Pearson (der nach Quebecs Tod Anfang 1963 dessen Job als A & R-Mann übernahm) als wichtige Schnittstellen. In den Fünfzigern gestaltete auch Andy Warhol ein paar Blue Note Plattenhüllen.

Das Label wurde 1965 von Liberty Records übernommen, Lion zog sich 1967 zurück. Wolff, dessen Name in den Credits bisher bloss als Photograph auftauchte, wurde zum Produzenten der Alben, Duke Pearsons Rolle immer wichtiger. 1969 wurde Liberty von United Artists übernommen, der Jazz war längst auf dem absteigenden Ast. Wolff starb 1971, Pearson zog sich ein Jahr später zurück und George Butler übernahm. Es entstanden immer noch hie und da gute Alben, doch der Jazz war längst an den Rand gedrängt, nicht nur im Musikmarkt sondern auch bei Blue Note.

United Artists wurde 1979 von EMI übernommen, Michael Cuscuna hatte in der Zwischenzeit damit begonnen, die Blue Note-Archive zu durchforsten, in den folgenden Jahren erschienen zwei Reihen mit grossteils unveröffentlichten Aufnahmen. 1985 wurde das Label unter der Leitung von Bruce Lundvall wiederbelebt. In der New Yorker Town Hall fand ein grosses Konzert statt, bei dem zahlreiche ehemalige "Blue Note Recording Artists" auftraten. McCoy Tyner nahm erneut für das Label auf, es stiessen aber auch jüngere Musiker wie Joe Lovano oder Greg Osby dazu. Ende der Achtziger erschien praktisch der ganze Katalog auf CD. Michael Cuscuna blieb weiterhin am Ball und bemühte sich um weitere Ausgrabungen und Reissues alter Aufnahmen (die teils auf seinem Anfang der Achtiger gegründeten Sammlerlabel Mosaic Records erschienen). Durch die Verbindung mit EMI gehörten inzwischen auch die Kataloge von Labeln wie Pacific Jazz, Roulette, Roost, Colpix, United Artists, Capitol Records und andere zum Fundus.

Der sechzigste Geburtstag wurde noch im grossen Stil gefeiert, doch in den letzten zehn Jahren, auch nach dem Grosserfolg des Debutalbums von Norah Jones, wurde es um die Jazzaktivitäten von Blue Note ruhig, die Reissue-Serien kamen zum Erliegen. Nach der Übernahme von EMI durch Universal 2012 wurde Don Was zum Präsidenten berufen. Doch die Zeit des Jazz bei Major Labeln ist seit Ende der Neunziger abgelaufen, Blue Note ist aus deren Perspektive heute wohl nur noch als Marke von Interesse.